Skip to main content

Die Vielfalt des Lernens

WIE TRADITION UND WANDEL MITEINANDER SPIELEN:

EIN BESUCH DER JUNIORENSTUFE IN LOUISENLUND

Es ist ein kühler, sonniger Morgen in Schleswig-Holstein. Passend zum Herbst liegt noch etwas Nebel über der Großen Breite, dem Ostseearm der Schlei, zwischen Schleswig und Eckernförde. Heute ist ein aufregender Tag für Leonie. Sie darf zusehen, wie bei Sid die unteren Schneidezähne gekürzt werden. Die wachsen bei ihrem Freund nämlich das ganze Leben lang. Leonie besucht die Juniorenstufe des Gymnasiums der Stiftung Louisenlund und Sid ist eines von fünf flauschigen Alpakas, die 2016 in Louisenlund eingezogen sind. 

Während Leonie ihrem tierischen Freund Sid beisteht, treffen wir Dr. Peter Rösner. Der Physikerist seit 2014 Leiter der Stiftung Louisenlund, die im Jahr 1949 von Friedrich Herzog zu Schleswig-Holstein und seinem Freund Kurt Hahn nach dessen reformpädagogischen Leitgedanken gegründet wurde.

HERR DR. RÖSNER, WIE SIEHT DAS PÄDAGOGISCHE ANGEBOT DER STIFTUNG AUS UND WIE VIELE JUNGE MENSCHEN BESUCHEN DEN CAMPUS?

„Wir organisieren als Stiftung die Rahmenbedingungen für das Leben und Lernen von aktuell ungefähr 490 deutschen und internationalen Schülerinnen

und Schülern. Zu unserem pädagogischen Angebot gehören die Grundschule, das staatlich anerkannte Ganztagsgymnasium, das plus-MINTTalentzentrum

und die IB World School. Mehr als 320 Schüler*innen leben hier auf dem Campus in den einzelnen Häusern unseres Internats. Ungefähr 170 junge Menschen, besonders Grundschüler*innen sowie Lernende der Juniorenstufe, kommen aus der Region und ergänzen die Louisenlunder Gemeinschaft jeden Morgen als Tagesschüler*innen.“

WAS IST DAS BESONDERE AN LOUISENLUND?

„In der Verwaltung, im Kollegium und mit den Hauseltern im Internat arbeiten wir jeden Tag daran, Louisenlund zu einem der besten Orte für das Leben und Lernen junger Menschen zu machen. 

Wenn die jungen Menschen uns nach dem Abitur oder dem IB Diploma, dem internationalen Schulabschluss in englischer Sprache, verlassen, sollen sie ihr ganz individuelles Potenzial entwickelt und ihre vielfältigen Talente ausprobiert haben. Dann haben sie hier Wertschätzung erfahren und in einer starken internationalen Gemeinschaft mit einer fehlerfreundlichen Kultur der Anerkennung gelebt. Ich bin immer wieder berührt, wie selbstständig, leistungsbereit, weltoffen und kritisch denkend viele unserer Schüler*innen werden. Sie können Verantwortung für sich und andere übernehmen. 

Besonders ist auch die Lage unseres Campus mit dem Schloss Louisenlund und dem Hof direkt am Ufer der Schlei, die ein super Segelrevier für die Mädchen und Jungen ist. Das sind beste Bedingungen, um sich naturnah zu entwickeln und zu entfalten.“

WELCHE HERAUSFORDERUNGEN SEHEN SIE FÜR DIE STIFTUNG IN ZUKUNFT?

„Meine Überzeugung ist, dass sich die Denkweise, wie Schule organisiert wird, stark verändern muss. Statt den Status quo in die Zukunft retten zu wollen, sollten wir die veränderten Bedingungen, unter denen wir auf diesem Planeten leben, als Herausforderung annehmen. Klimawandel, Biodiversität, Migration, digitale Transformation, Mobilität und Demografie sind Beispiele für die Dimension der Veränderungen. Schule darf nicht die Simulation einer Realität werden, die es so nicht mehr gibt. Wie wir mit Vergänglichkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit umgehen, wird besonders die Zukunft der jungen Menschen mitbestimmen.

In Louisenlund haben wir uns vor drei Jahren nach breiter Diskussion von der Vorstellung der Homogenität als Organisationsgrundlage für unsere Schulen verabschiedet. Heute beeinflusst die Heterogenität unserer Schulgemeinschaft unser Denken und verändert zunehmend die Prozesse, mit denen wir unsere Schulen organisieren, und die Kooperationen, in denen wir arbeiten. Dabei

lösen sich bestehende Strukturen der bisherigen Unterrichtsorganisation, wie zum Beispiel das Lernen in Klassenverbänden und Jahrgangsstufen, zunehmend auf. Wir ersetzen sie gezielt durch andere strukturbildende Elemente. Neben fachlichen Anforderungen und transparenten Leistungsnachweisen stimmen wir zukünftig individuelle Lernpläne auf jede Schülerin und jeden Schüler ab und kombinieren sie mit passenden Inhalten, Zeiten und Räumen. So schaffen wir ein Lernklima, das von Zuwendung, Empathie, Ermutigung, Respekt und Engagement getragen wird.“

Die organischen Formen der FlexHub-Tische und gelbe Akustikabsorber sorgen für Privatsphäre beim Lernen.
Unterschiedliche Ebenen und immer neue Kombinationsmöglichkeiten beleben die offene Lernfläche.

WIE SIEHT DIESER AUFBRUCH IN LOUISENLUND GENAU AUS?

„Wenn Sie wie wir diesen Veränderungsprozess beginnen, benötigen Sie eine breite Zustimmung und die Unterstützung aller Beteiligten. Es verändert sich ja nicht nur die Art des Lernens für die Schüler*innen, sondern auch die Rolle der Lehrenden und die Art der Zusammenarbeit insgesamt.

In Louisenlund möchten wir den kompetenzorientierten Unterricht konsequent vom Lernen der Schüler*innen aus denken. Dazu gehört, dass die Lernenden wissen, was sie am Ende der Unterrichtseinheit möglichst gelernt haben sollen. Sie sollen die Lernschritte, die sie gehen werden, kennen und überblicken, warum es wichtig ist, sich mit einem bestimmten Thema auseinanderzusetzen. Dies ist natürlich ein sehr differenzierter, sich kontinuierlich entwickelnder Prozess, der in der Grundschule anders ausgestaltet ist als in der Sekundarstufe I, die sich wiederum vom Vorgehen in der Sekundarstufe II oder der IB World School unterscheidet.“

WELCHE ROLLE SPIELEN DIE LEHR-/ LERNRÄUME IN DIESEM KONZEPT?

„Die Vielfalt der möglichen Lernwege in Louisenlund erfordert flexible Lernsituationen, die eine räumliche Variabilität in unseren Lernhäusern voraussetzen. Das traditionelle Klassenzimmer gibt es hier bald nicht mehr. Sowohl im Schloss als auch auf dem Hof befinden wir uns in einem historisch gewachsenen Umfeld, das sich nur eingeschränkt pädagogisch sinnvoll weiterentwickeln lässt. Deshalb war für uns klar, dass wir Räume schaffen wollen, in denen das individuelle Lernen in all seinen Facetten auch funktionieren kann.

Im ersten Schritt haben wir 2018 eine neue Grundschule für mehr als 60 Kinder eröffnet, in der es keine Klassenräume mehr gibt und das Lernen jahrgangsübergreifend organisiert wird. Im August 2020 wurde im zweiten Schritt die historische Scheune auf dem Hof entkernt und mit offenen Lernflächen für mehr als 70 Lernende der Juniorenstufe (Jahrgänge 5 bis 8) und einem Arbeitsbereich für Lehrende ausgestattet, der agiles Arbeiten und Kooperation ermöglicht. Der dritte Schritt befindet sich gerade im Bau: unser neues Lern- und MINTForschungszentrum für die zukünftig rund 400 Lernenden der Oberstufe und der IB World School.“

Plötzlich steht Leonie wieder neben uns. Sie hat den Auftrag von Christian Helm, dem Leiter der Juniorenstufe, uns zur Lernscheune zu begleiten. Die dritte Stunde fängt gleich an. „Was machen denn die Zähne von Sid?“, wollen wir wissen. „Alles halb so schlimm. Die Tierärztin hat sie ganz vorsichtig abgefeilt, dann durfte ich ihn wieder in den Freilauf bringen.“ Beim Gehen fällt uns auf, mit welcher Leichtigkeit und Freude die Mitschüler*innen von Leonie die Lernscheune betreten. Anders als in vielen Schulen stehen wir direkt vor einer einladenden Garderobe mit Platz für Jacken, Schuhe und Rucksäcke. Die Kinder laufen auf Strümpfen zwei Holzstufen hoch und legen oder setzen sich auf ein gemütlich beleuchtetes, gepolstertes Objekt. „Das ist unser LazyLab“, erklärt uns Max, der wie Leonie in der Lerngruppe der Jahrgangsstufe 5 und 6 ist. „Hier ruhen wir uns aus oder spielen, manchmal machen wir zusammen Deutsch und lesen etwas Soll ich Ihnen die Lupe zeigen?“ Die Lupe ist eine vom Boden bis zur Decke beschreibbare Wand, an der in kleinen Gruppen etwas besprochen und erklärt werden kann. Es gibt drei Lupen im Gebäude. Die Wände sind kaum als Whiteboardfläche zu erkennen. „Die Lupe ist sogar magnetisch, damit wir Papier und Poster aufhängen können“, erklärt Max.

Lachend kommt Herr Helm auf uns zu: „Ja, so ist das hier. Die Kinder verstehen das Gebäude als ihren eigenen Lernort. Die Distanz von Lernen und Entspannung hat sich seit dem Einzug deutlich verringert. Der gesamte Bereich um das LazyLab kann von den Kindern, besonders von denen, die hier im Internat untergebracht sind, auch abends in der Freizeit genutzt werden.“ Dann wird es plötzlich leise. Die Lernzeit in der Scheune beginnt. Alle Schüler*innen haben selbstständig aus ihren Rucksäcken die notwendigen Dinge mit auf die Lernfläche genommen und sich ihren Platz gesucht.

HERR HELM, IST ES HIER IMMER SO LEISE?

„Erstaunlicherweise ja. Wir haben in Abstimmung mit den Kindern eine Flüsterkultur eingeführt. In der Scheune findet kein klassischer Unterricht statt.

Dazu gibt es spezielle Inputräume im Umfeld der Scheune. Die Kinder kommen zu den Lernzeiten hierher, um in ihrem eigenen Lerntempo die Inhalte und Aufgaben zu bearbeiten, die für sie von den Kolleg*innen in den einzelnen Fächern vorbereitet worden sind. Die Fachlehrenden unterstützen die Kinder dabei und geben fachliche Impulse je nach individuellem Lernstand. Jahrgangsübergreifend bilden die Stufen 5 und 6 eine Lerngruppe und die Stufen 7 und 8 ebenfalls.“

WIE IST DIE EINRICHTUNG DARAUF ABGESTIMMT?

„Wir denken flexibel. Die Einrichtung erfüllt heutige Bedürfnisse, ermöglicht aber auch zukünftige Veränderungen. Wir haben nach einer harmonischen Mischung unterschiedlicher Funktionen gesucht. Tische in verschiedenen Größen und

Formen, vom Einzeltisch bis zu großen organischen Tischlandschaften, die wir nach Bedarf im Raum positionieren. Alle Tische können von den Lernenden mit Einschüben und unseren Henkelmännern, das sind Akustikabsorber, den individuellen Bedürfnissen entsprechend angepasst werden. Die großen Freiformtische wirken wie Schmetterlingsschwärme, wenn alle gelben Akustikabsorber auf die Tischplatten geschoben sind. Alle Tische sind in Material und Farbe aufeinander abgestimmt und gehören zum FLEX-Programm von Flötotto. Genau wie die PRO CHAIR-Drehstühle, die wir hier bewusst ohne Rollen nutzen. Zwischen den Lernplätzen haben wir unser Stadion: ein gepolstertes Sitzmöbel, das mit seinen hohen Rückenteilen mitten in der Lernfläche einen Rückzugsort für bis zu acht Kinder bietet.“

 

 

 

 

Bilder: Benjamin Janzen

AUF WELCHES LERNMATERIAL KÖNNEN DIE KINDER ZURÜCKGREIFEN?

„Die Lernenden können in diesem Raum auf zwei persönliche Ordnungssysteme zugreifen. Zum einen sind das vier unterschiedlich farbige Gratnells-Einschübe für Lernmaterial, die jedes Kind hat. Diese sind jeweils an den Wänden in den Sideboards untergebracht, jederzeit zugänglich und optisch präsent. Die Einschübe können mit zu den Tischen genommen werden und in das vorgesehene Schienensystem unter der Tischplatte geschoben werden. Zum anderen haben wir für alle Kinder Laptops, mit denen sie ihre persönliche Lernplattform in der Schul-Cloud nutzen können. Das Hin- und Hertragen von Schulmaterial wird so minimiert.“

WAS IST DIE HERAUSFORDERUNG EINER OFFENEN LERNFLÄCHE?

„Es sind die unterschiedlichen Bedürfnisse. Manche möchten konzentriert arbeiten, andere stocken in ihrem Lernfluss, weil sie eine Frage haben, wieder andere möchten sich in kleinen Gruppen austauschen. Die Anforderungen an uns Lehrkräfte sind komplexer als im herkömmlichen Unterricht, weil wir den jeweiligen Lernstand und die Lernschritte für das einzelne Kind im Blick haben sollten. Deshalb ist es wichtig, dass wir für Impulse mit einzelnen Kindern oder Kleingruppen die Lernfläche verlassen können und mit den beschreibbaren, magnetischen Wänden – den Lupen, die Sie ja schon kennengelernt haben – gute Möglichkeiten für Vertiefungen haben. Ebenso können wir den Kreisel nutzen, einen verglasten Raum mit großen Schiebetüren, der von der Lernfläche einsehbar ist. An einem großen runden Tisch können dort zusätzlich unterschiedliche Lernsituationen in Gruppenoder Einzelarbeit umgesetzt werden.“

Dann stehen wir plötzlich im transparenten Arbeitsbereich der Lehrer*innen, der durch eine große Glastür einsehbar ist. Ein zentraler Tisch für Besprechungen und zum Arbeiten sowie korallrote PRO CHAIR-Besprechungsstühle prägen den Raum. Auch hier sind die Wände als Informationsträger beschrieben und mit Notizen gefüllt. Agiles Arbeiten, kurze Informationswege und eine intensive fachliche Kooperation sind ein sichtbarer Beleg, dass auch das Kollegium von Louisenlund auf individuelles Lernen setzt.

„Henkelmann“ heißen die roten Akustikabsorber, mit den die Lernenden ihre direkte Lernumgebung gestalten.